In den eigenen vier Wänden

Herr H.* hat schon viel durchgemacht in seinem Leben. Aufgrund mehrerer Straftaten war er bereits in jungen Jahren in Haft. Im Gefängnis kam Herr H. das erste Mal mit Drogen in Berührung. Er entwickelte  eine Opiatabhängigkeit und infizierte sich über gebrauchte Spritzen mit Hepatitis C.

Die Bedingungen „drin“ seien hart, da probiere man jede Art der Ablenkung aus, ohne an die Konsequenzen zu denken, erzählt Herr H. seiner Sozialarbeiterin im Jedmayer Jahre später. Nach diversen weiteren Haftaufenthalten begann er eine Substitutionsbehandlung.

Nach seiner Entlassung war es für Herrn H. sehr schwierig in einen geregelten Alltag zu finden.  Alte Freunde und Familienangehörige waren nach der Haft nicht mehr für ihn da. Er wurde wohnungslos und verbrachte mehrere Jahre auf der Straße bzw. in verschiedenen Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe. Immer schwieriger wurde es für ihn sich in engen Strukturen zurecht zu finden.

Das Tageszentrum Jedmayer bietet Herrn H. die Möglichkeit sich an kalten Tagen aufzuwärmen, seine Wäsche zu waschen, für das leibliche Wohl zu sorgen und medizinisch versorgt zu werden. Durch das niedrigschwellige Angebot der Einrichtung erhält er Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen und kommt mit SozialarbeiterInnen in Kontakt, die ihn anregen seine Lebensumstände zu verändern.

Herr H., inzwischen 55-jährig, bezieht eine Arbeitsunfähigkeitspension und beginnt sich immer mehr mit seinem Leben auseinanderzusetzten. Sein größter Wunsch ist es, in eigenen vier Wänden alt werden zu dürfen. Er ist nun bereit, das  Ziel „selbstständiges Wohnen“ mit sozialarbeiterischer Unterstützung anzugehen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind viele kleine Schritte notwendig. Rechtzeitig zu Terminen zu erscheinen, fällt dem Pensionisten zu Beginn nicht leicht. Seine Sozialarbeiterin begleitet ihn mehrmals zu Amtswegen, um neue Personaldokumente zu beschaffen und Anträge für Unterstützungsleistungen zu stellen.

Die vielen Aufgaben, die Herr H. nun zu bewältigen hat, lösen auch Stress und Überforderung aus. er versucht sich deshalb manchmal mit übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum zu beruhigen; was zur Folge hat, dass er in seiner Beeinträchtigung die Kontrolle über sich verliert.  Nicht nur einmal hat jemand aus dem Jedmayer für Herrn H. die Rettung alarmiert. Die Sozialarbeiterin reflektiert mit ihm regelmäßig die spezifische Funktion des Drogenkonsums und des Rausches in seinem Leben und bespricht die Möglichkeiten, den Beikonsum zu reduzieren. Mit der Zeit schaffte es Herr H., mehr und mehr Kontrolle über seinen Konsum zu erlangen.

Da Herr H. schon länger nicht mehr „gewohnt“ hat, ist es sinnvoll, sich zunächst in einer betreuten Wohnform an neue Strukturen und dadurch entstehende Herausforderungen zu gewöhnen. Seine Betreuerin im Jedmayer beantragt mit ihm eine Förderbewilligung für einen Wohnplatz der Wiener Wohnungslosenhilfe. Einige Monate später zieht er in ein betreutes Übergangwohnhaus. Die SozialarbeiterInnen dort sorgen für ein geschütztes Umfeld und unterstützen bei organisatorischen Aufgaben zum Erhalt einer künftigen Gemeindewohnung. Herr H. übernimmt von Tag zu Tag mehr Eigenverantwortung, und seine Terminverbindlichkeit verbessert sich deutlich.

Die wöchentlichen Beratungsgespräche bei seiner Sozialarbeiterin im Jedmayer nimmt er weiterhin wahr. Das ist ein Anker, der ihm hilft, das Erreichte „abzusichern“. Regelmäßig meldet ihm die Sozialarbeiterin ihre Eindrücke über seine positiven Entwicklungen rück. Das stärkt sein Selbstbewusstsein.

Einige Monate später bezieht Herr H. seine eigene kleine Gemeindewohnung und freut sich darauf, das erste Mal in seinem Leben seine eigenen Möbel auszusuchen. Damit nun nichts mehr „schief gehen“ kann, hilft ihm seine Sozialarbeiterin, eine mobile Wohnbetreuung sicherzustellen.

Über diese Erfolgserlebnisse konnte Herr H. „Selbstwirksamkeit“ erfahren. Und er schaffte es, kleinere Rückschläge besser einordnen zu können und aus ihnen zu lernen. Die Unterstützung der Sozialarbeiterin vom Jedmayer braucht Herr H. heute nicht mehr. Trotzdem kommt er ab und an ins Tageszentrum, um mit seiner ehemaligen Betreuerin zu plaudern.

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* Name geändert, Fall durch leichte Verfremdungen anonymisiert